Fast wie zu Hause
Eine chilenische Schweiz – auf altem Mapuche-Land
Die Kirche ist wie aus dem Bilderbuch – oder einem Holzbaukasten. Weiße Wände, die Tor- und Fensterbogen schwarzbraun abgesetzt, ein karmesinrotes Dach. Der Kirchturm mit Uhr nach drei Seiten, flankiert von zwei kleineren Türmchen auf dem Querschiff, dazu Seitenschiffe rechts und links vom Turm.
Wie aus dem Schwarzwald – die Kirche von Puerto Varas
So etwas könnte man auch in Süddeutschland finden – und tatsächlich, die Kirche ist aus dem Schwarzwald. Zwar nicht im Original, sondern bereits 1915 bis 1918 im neoromanischen Stil und statt aus Stein aus Holz nachgebaut. Von Deutschen, die hier, in Puerto Varas, seit 150 Jahren siedeln.
Puerto Varas liegt im Hinterland der Bucht von Puerto Montt, etwa 1000 Kilometer südlich von Santiago de Chile – dort, von wo sich die chilenischen Fjorde entlang der Anden bis zur Südspitze des Kontinents hinziehen. Hier dominieren Vulkanberge, dazwischen Seen und Flüsse, ein hügeliges Areal, durchaus vergleichbar dem Alpenvorland. Kein Wunder, dass deutsche Siedler, die Mitte des 19. Jahrhunderts vor Not, Missernten und Revolutionswirren aus Deutschland flohen, hier eine neue, weil landschaftlich vertraute Heimat suchten.
Sie trafen dabei auf das Interesse des jungen, sich erst seit wenigen Jahrzehnten als unabhängiger Staat entwickelnden Chile, das um die Selbständigkeit gegenüber dem einstigen spanischen Mutterland rang. Da waren fleißige und gottesfürchtige Einwanderer willkommen, und die Regierung beauftragte den deutschen Naturforscher Bernhard Philippi, der bei einigen Reisen in südliche Landesteile dort viele dünn besiedelte Gebiete gefunden hatte und eine Kolonisierungsplan entwarf, der den chilenischen Behörden zusagte. Sie ernannten ihn zum Einwanderungsagenten und forderten ihn auf, 180 bis 200 katholische deutsche Familien ins Land zu holen.
1846 trafen die ersten ein; es waren aber vorwiegend Protestanten, da deutsche Bischöfe ihren Gemeindemitgliedern die Auswanderung oft untersagten. Die ersten Jahre waren hart, mussten doch Schneisen in fast undurchdringliche Urwälder geschlagen und das Land erst urbar gemacht werden. Auch wegen solcher Schwierigkeiten blieb der Strom der Einwanderer überschaubar; in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als es in Deutschland allmählich zum Aufschwung kam, versiegte er fast. Um die Jahrhundertwende lebten nicht mehr als 10000 Deutsche in der neuen Heimat zwischen Pazifik und Anden,die sie die »chilenische Schweiz« nannten. Doch waren 1917 bereits 38,5 Prozent und 1961 sogar mehr als die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche dieses Gebiets in Händen von Deutschchilenen.
Die Deutschen siedelten auf altem Indianerland. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hatten die Araukaner, heute als Mapuche bezeichnet, den Süden Südamerikas beherrscht. Dann aber dezimierten sie die Europäer mit ihren überlegenen Waffen, vor allem aber durch Krankheiten und Seuchen, denen die Ureinwohner des Kontinents nichts entgegenzusetzen hatten. Sie zogen sich in unwegsame Gebiete zurück und mussten nun vor den Siedlern noch weiter zurückweichen. Heute sind die wenigen Verbliebenen in Reservaten untergebracht, wo sie als kleine Bauern zu überleben versuchen – und sie selbst um dieses Restland noch kämpfen müssen, das durch ein Staudammprojekt überflutet werden soll. Immer spärlicher werden ihre Spuren. Am ehesten findet man sich noch in einigen Ortsbezeichnungen. Der zungenbrecherische Name für Chiles zweitgrößten See, den Llanquihue-See, kommt zum Beispiel aus der Mapuche-Sprache und heißt »überschwemmter Ort«. Auch die ursprüngliche Bezeichnung für die Stadt an der Meeresbucht war »Melipulli« – »vier Hügel«; die Nachfahren der Europäer benannten sie 1853 nach Chiles damaligem Präsidenten: Puerto Montt.
Wir aber sind jetzt in Puerto Varas. Der Flecken blühte vor mehr als 100 Jahren allmählich auf. 1853 wurde es als Siedlung gegründet und erhielt 1897 das Stadtrecht. Heute zählt der Ort 35000 Einwohner, davon nicht wenige Deutsche. Man findet ihre Spuren im Straßenbild, so in Namen für Restaurants und Cafés – und eben in der Kirche, die spanisch »Sagrado Corazón de Jesús« heißt. Vor zwei Jahren wurde sie restauriert, auch mit deutschen Steuermitteln. Nun erhebt sie sich auf einem kleinen Hügel prachtvoll über dem Städtchen, das vor allem vom Tourismus lebt. Architektonisch bietet es nicht viel; die Bewohner versuchen dies durch Blumenschmuck auszugleichen. In den Vorgärten, aber auch oft an den viel befahrenen Straßen wächst es rot und blau, pink, weiß oder lila. Stadt der Rosen möchte Puerto Varas genannt werden – und es tut einiges dafür.
Die Deutschen müssen nichts entbehren in der chilenischen Schweiz
Eine schöne, allerdings mit Bussen und ihren auswärtigen Insassen vollgestopfte Promenade führt an den schon genannten Llanquihue-See, über dem sich in prachtvoller Schönheit der 2652 Meter hohe Vulkan Osorno erhebt. Wohlgeformt, so dass ihn die Chilenen stolz als den Fudschijama Südamerikas bezeichnen, mit einem ganzjährig weißen Schneekegel spiegelt er sich im Wasser des Sees.
Ein Vulkan, fast aus dem Bilderbuch – der Osorno (2652 m)
Viereinhalb Stunden braucht man, um ihn zu umfahren, doch wir haben nur Zeit für einige besonders schöne Fleckchen. Zum Beispiel die Wasserfälle von Petrohué. Durch das schwarze Vulkangestein schiebt sich der gleichnamige Bergfluss zum Lago Todos Los Santos, dem »Heiligen See«, der sich fast bis an die argentinische Grenze erstreckt. Der See hat nichts von der Wildheit der hoch aufschäumenden Kaskaden, die wir gerade passierten; fast verträumt schmiegt er sich in die Landschaft, die vom Osorno, dem noch aktiven Calbuco, der 1961 das letzte Mal ausbrach, und dem schlanken, zerklüfteten Pontiagudo förmlich eingerahmt ist. Dass wir die Berge im gleißenden Sonnenlicht sehen, ist eine Seltenheit, denn an 200 Tagen im Jahr regnet es und hängen Wolken um die Gipfel. Auf dem Heiligen See schaukeln Ruder- und Paddelboote, am Ufer liegen auch einige größere Kähne; von hier aus kann man wandern und in die Berge trekken.
Die Straße, die weiter hinauf in die Anden führt, ist teilweise weggespült, weil Schmelzwasser, vermischt mit Lavabrocken, nach dem letzten Winter ins Tal stürzte. Autos und sogar Busse balancieren vorsichtig darüber hinweg. Auf dem Rückweg machen wir in Ensenada Station, einem Dorf am Llanquihue, trinken das aus Äpfeln oder Weintrauben hergestellte, leicht vergorene Nationalgetränk »chica« und den Pisco, eine chilenische Variante des Mojito aus Traubenschnaps, essen Fleischtaschen und gegrillten Lachs. Einige Kilometer weiter kommen wir an einem Wasserrad vorbei. Wir können es kaum verfehlen, denn ein großes Schild am Straßenrand verweist darauf: »Club Aleman Zur Wassermühle«.
Das Restaurant „Wassermühle“ ist Treffpunkt des Club Aleman
Ein Bach bringt das Wasser über hölzerne Stege heran, dann ergießt es sich auf das Rad, treibt es an, und früher wurden damit im nebenstehenden geräumigen Schuppen Maschinen betrieben. Leider können wir beim kurzen Fotostopp nicht mehr erfahren, zumal der Besitzer beschäftigt ist. Er betreibt ein gut gehendes Restaurant mit Gartenterasse, und das Wasserrad ist nur noch Attrappe, um Kundschaft anzulocken.
Wir hätten schon gern mehr über den »Deutschen Klub« erfahren, ist es doch ein offenes Geheimnis, dass nach dem 2. Weltkrieg nicht wenige belastete Nazis über den Ozean nach Südamerika flohen und dort, weitab von bohrenden Fragen, neue Existenzen gründeten. Ideologisch sind sie oft bei ihren in Hitler-Deutschland geprägten Auffassungen geblieben, und nicht zufällig waren viele von ihnen eine Stütze für den sich 1973 an die Macht putschenden Diktator Augusto Pinochet. Traurige Berühmtheit erlangte aus jener Zeit die »Colonia Dignidad« des Deutschen Paul Schäfer, die als eines der Folterzentren der Putschisten diente. In der chilenischen Schweiz spricht man jetzt, da Pinochet längst entmachtet ist und zur Rechenschaft gezogen werden soll, nur ungern über die Rolle der Deutschen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. NS-Auslandsorganisationen hatten in Südamerika eine intensive »völkische« Propaganda betrieben, die bis heute ihre Spuren hinterlassen hat. Viele Deutschchilenen verklären jene Jahre und verharmlosen ihren Beitrag zur konspirativen Integration ehemaliger Nazis. Wie sehr diese aber erneut auch mit ihren Einstellungen an Einfluss gewannen, zeigte das Beispiel des früheren SS-Hauptsturmführers Erich Priebke, der an der Ermordung von 335 Geiseln in den Ardeatinischen Höhlen in Italien beteiligt war. Er schlüpfte zwar nicht in Chile, aber im nur wenige Kilometer von seiner Grenze entfernten argentinischen Bariloche unter und machte dort – wie jüngst ein Film des deutsch-argentinischen Regisseurs Carlos Echeverria dokumentierte – fast so weiter, wie er mit Kriegsende aufgehört hatte. Er stieg nicht nur im Umfeld der Deutschargentinier wieder auf – zum Präsidenten des Vorstandes der deutschen Schule und sogar zum Vorsitzenden der deutschen Gemeinde in Bariloche, sondern sorgte auch dafür, dass die Zöglinge der deutschen Schule nichts über nationalsozialistische Verbrechen erfuhren und sogar vor den Werken Heinrich Bölls »geschützt« wurden. Keiner aus diesem Kreis wollte sich nach Priebkes Enttarnung 1994 und seiner Verurteilung zu lebenslanger Haft dazu äußern, doch Raimundo Runge, ein ehemaliges Mitglied des Schulvorstandes, das inzwischen nach Puerto Montt und in den dortigen Club Aleman umgezogen war, nahm kein Blatt vor den Mund. Dem Erich so sagte er, sei allerhand zugefügt worden, aber so wäre das eben, wenn die Juden die Medienmacht hätten.
Auf der Weiterfahrt von Puerto Varas an die Küste gelangen wir auf die Carretera Panamericana, jene 25000 Kilometer lange, teilweise jedoch unterbrochene Straßenverbindung zwischen Alaska und Feuerland. Das kurze, nur 15 Kilometer lange Stück, das wir befahren, führt nordwärts nach Puerto Montt und in Richtung Süden – als Carretera Austral – bis Puerto Aisén. Pinochet hatte den Bau energisch vorangetrieben, um seine Truppen schnell überall hinschicken zu können. 1150 Kilometer sind in 20 Jahren gebaut worden, was 200 Millionen Dollar verschlang. Die Straße ist vier- bis sechsspurig ausgebaut, 120 Stundenkilometer sind zugelassen. Ein Highway, hier von hohem Standard, andernorts aber auch als unbefestigte Schotterpiste.
“Wer den chilenischen Wald nicht kennt, kennt unseren Planeten nicht.“ (Pablo Neruda)
Früher waren hier überall undurchdringliche Wälder, und auch jetzt ist das Land noch reichlich bewaldet. Und dennoch warnen Umweltschützer seit langem vor dem Verschwinden dieses natürlichen Reichtums, den Pablo Neruda einmal mit dem Ausspruch »Wer den chilenischen Wald nicht kennt, kennt unseren Planeten nicht« beschrieb. Inzwischen wird am Holz jedoch Raubbau getrieben, vor allem seit der Pinochet-Diktatur. Seitdem wurden Flächen von der Größe Bayerns abgeholzt, und fast alles über den Hafen Puerto Montt in Papierfabriken verschifft. Damit werden wertvolle Hölzer, die ihrer Härte und Dichte wegen hervorragend für den Hausbau geeignet sind, regelrecht vergeudet. Jahrhundertelang hatten Chiles Ureinwohner und auch die Siedler diese Sorten – Alerce, das »rauli« und die »tepa«, wie sie hier genannt werden – zu harten, durch den Kupfergehalt des Bodens rotfarbenen Schindeln zugeschnitten und damit die Hauswände verkleidet und die Dächer gedeckt. Noch findet man viele solcher Häuser in der Gegend, mit Eisenrohren als Schornsteinen und inzwischen verwittert, aber für viele ist das Holz inzwischen nicht mehr bezahlbar – und es verschwindet; schon in 30 Jahren, schätzen Experten, wird Chiles Primärwald vernichtet sein.
Mit 160 000 Einwohnern ist Puerto Montt, das wir nach kurzer Zeit auf der Panamericana erreichen, die größte Stadt der Region und eine wilde Mischung aus Hafen, Industrieort, Urlauberstädtchen und Handelsplatz. Entsprechend widersprüchlich die Architektur. Neben einer Kathedrale, die zum Papstbesuch 1987 runderneuert wurde, ein modernes Papstmuseum. Neben ausgedehnten und wie überall hässlichen Gewerbeflächen hübsche, blumengeschmückte Zeugnisse der 150-jährigen Siedlungsgeschichte. Neben einem quadratischen Gefängniskomplex mit strahlend weißen Mauern und Wachtürmen an allen vier Ecken ziemlich gesichtslose Geschäftsstraßen, die vor allem von Hotels und Andenkenläden beherrscht werden. Auch hier natürlich ein »Café Dresden«, eine Loreley-Insel und andere Zeichen deutscher Besiedlung, doch die Sprache kommt fast nur noch auf diese Weise vor; gesprochen wird sie immer weniger. Zwar gehen noch viele deutschstämmige Kinder in deutsche Schulen, aber oftmals kommen sie erst hier mit der Sprache ihrer Vorfahren in Berührung. Gesprochen wird sie am Familientisch kaum. In einer Untersuchung aus dem Jahre 1998 gaben 75 Prozent der Befragten Deutschchilenen an, zu Hause nur noch Spanisch zu sprechen. Nur sieben Prozent sahen sich überhaupt als Deutschchilenen, während sich 40 Prozent als »Chilenen deutscher Abstammung« bezeichneten.
Puerto Montt – Hafenstadt am Pazifik
Puerto Montt liegt nicht nur an der Panamericana und hat einen großen Hafen, in dem außer Fischfangschiffen auch die großen Kreuzfahrer auf ihrem Weg nach Kap Hoorn Station machen; hier gibt es einen Flugplatz und die schon genannte Verbindung nach Argentinien. Insofern ist die Stadt ein wichtiger Verkehrsknoten für das Land. Wir verlassen sie auf dem Seeweg, vorbei an den schmucklosen Hafenanlagen und einer weit in die Bucht ragenden Landzunge, die mit kargem Baumbestand und vielen kleinen, windschiefen Hütten als Ferien- und Badeinsel dient. Das Abschiedsbild ist durchaus beeindruckend, als wir die geschwungene Hafensilhouette hinter uns lassen und an den drei 2000er-Vulkanen vorbei in die offene See gleiten, auf der wir alsbald Kurs nach Süden nehmen.
Wir machen Station, wo die »Carretera Austral«, das letzte Teilstück der Panamericana, endet, in Puerto Aisén. Dorthin gelangt man vom Pazifik über den kleinen Hafen Chacabuco. Hier hatte 1817 die erste große Schlacht der Chilenen gegen Spanien stattgefunden; sie endete mit dem Sieg der Aufständischen, die aus Argentinien über die Anden gekommen waren und nun auf Santiago vorrückten. Den unwegsamen Süden ließen sie vorerst links liegen; erst 1826 zogen auch von dort die letzten Spanier ab. Von dieser glorreichen Vergangenheit ist heute nicht mehr viel zu sehen. Es gibt außer einigen kleinen, von Wind, Sonne und Wasser gezeichneten Hütten nur große Verladeanlagen für Kühe und Schafe; in den Containern sind die Tiere eng zusammengepfercht. Dazu Hallen für die Verarbeitung der Fische, die die zahlreichen Boote hier anlanden.
Der Hafen jedoch liegt malerisch in einer Bucht, die zunächst von bewaldeten Hügeln umrahmt ist, hinter denen sich zerklüftete, schneebedeckte Berge erheben. Ich nehme einen kleinen, klapprigen Bus, der mich für 450 Peso bzw. einen Dollar ins 14 Kilometer entfernte Puerto Aisén bringt. Die Fahrt geht entlang des Fjordes, oft dicht am Wasser, dann durch flaches Land mit Bauernhütten und grasenden Kühen. Hier haben frühere Gletscher ihre Spuren hinterlassen und eine herbe Landschaft modelliert. Das Klima ist rau; die Temperaturen übersteigen auch im chilenischen Sommer nicht oft die 10-Grad-Grenze. Es regnet viel, so auch bei meinem Ausflug ins Landesinnere.
Ich erreiche die Stadt mit ihren knapp 20000 Einwohnern über die „Puente Presidente Ibáñez“, eine 210 Meter lange Hängebrücke, die 1968 eingeweiht wurde. Links und rechts des Rio Aisén stehen stählerne Doppelmasten, an denen an langen Seilen der Übergang mit einer zweispurigen Straße und Fußwegen aufgehängt ist – eine durchaus beeindruckende Konstruktion. Am Ufer kleine Siedlungen, doch das Zentrum, wenn man davon überhaupt sprechen will, befindet sich jenseits des Flusses.
Eine knallrote, 210 m lange Hängebrücke ist das Eingangstor nach Puerto Aisén
Eine knallrote, 210 m lange Hängebrücke ist das Eingangstor nach Puerto Aisén. Es ist wie auf dem Reißbrett angelegt; so etwas hatten wir schon einmal in den kanadischen Rocky Mountains gefunden. Kleine, meist nur ebenerdige oder einstöckige Häuser, in der Hauptstraße im Erdgeschoss mit einfachen Läden oder Cafés und Kneipen. Die Häuser sind zumeist bunt getüncht, bringen dadurch Farbe in das etwas eintönige Stadtbild. Ansonsten schmücken vorwiegend Strommasten mit dicken, sich kreuzenden Leitungen die Straßenränder, dazwischen auch mal eine Araukarie mit ihren immergrünen Quirlen, ein Rosenstock oder eine Blumenstaude. Ein zahnloser Bettler bittet ziemlich energisch um eine Spende; sonst nehmen die Einheimischen vom Fremden kaum Notiz. Tourismus ist neben der Fischerei die Haupterwerbsquelle der Bewohner von Puerto Aisén, sie sind die gelegentlichen Besucher gewöhnt.
Schnurgerade Straßen, kleine Bretterhäuser und ein Restaurant “Munich“ in Puerto Aisén
Es dominiert schmucklose Holzarchitektur, inzwischen ziemlich verwittert, denn die Winter hier sind lang, und von der See wie aus den Bergen ziehen oft heftige Stürme durch die ungeschützten Straßen. Selbst hier gibt es ein »Restaurant Munich«, wie ein Coca-Cola-Reklameschild verrät. In einem der Schaufenster werden Hochzeitskleider ausgestellt, doch die meisten Läden bieten an, was wir Gemischtwaren nennen würden. Sie sind sicher preiswerter als der riesige Supermarkt an der Hängebrücke mit seinem knallrot gestrichenen Obergeschoss. Dort kann man allerhand kaufen – vom Schreibheft bis zum Automobil, aber auf den blanken Bodenfliesern sind kaum Fußspuren zu sehen – und das nicht nur, weil das gelangweilte Personal sie immer wieder mit großen Besen so gründlich wienert, dass sich die Warenregale darin spiegeln. Ich sah dort nur drei Besucher, die aber wohl auch nichts kauften; dafür stellte mich ein Wachmann auf Spanisch zur Rede, weil ich einige Filmaufnahmen gemacht hatte. Ich antwortete englisch, er sann meinen Worten einige Zeit nach und ging dann wortlos – wohl auch, weil ich die Kamera inzwischen eingepackt hatte.
In der Ortsmitte eine große, schräge Rampe aus riesigen Granitsteinen mit einem Messingschild. Es erinnert auch hier an die Ureinwohner des Landes. Man sieht den Einheimischen die indianische Abstammung oft noch an. Sie sind klein, gedrungen, dunkelhaarig. Erstmals sollen 1544 Europäer hier aufgetaucht sein, 1620 berichtete ein spanischer Jesuitenpater von einem »Rio Aysén«. Anfang des 20. Jahrhunderts begann die eigentliche Besiedelung. Ab 1914 wurde von hier aus Vieh verschifft, 1928 die Stadt gegründet. Später aber verlagerte sich der Viehumschlag nach Chacabuco; Puerto Aisén stagniert seitdem, was dem Ort unschwer anzusehen ist.
Ein überdimensionaler Granitblock – Denkmal für die Mapuche, die chilenischen Ureinwohner
Auch hier also wird die Ärmlichkeit sichtbar, zu der die einst so stolzen Mapuche verdammt sind. Keine Regierung hat ihnen wirklich geholfen, auch wenn es nach Pinochet an symbolischen Gesten nicht gefehlt hat. Wie hier vor den verschneiten Bergen haben die Indianer auch in der Hauptstadt Santiago inzwischen ihr Denkmal, und manch Präsident zeigte sich schon in deren alter Volkstracht. Geändert hat das an ihrer Lage wenig, weshalb ein Schriftsteller, der Cervantes-Preisträger Jorge Edwards, die bitteren Worte fand:
»Chile ist ein rassistisches Land mit einer zur Selbstzufriedenheit neigenden, saturierten Oberschicht. Wir leben auf einer Wohlstandsinsel, aber ethnische und soziale Konflikte gibt es auch hier!«
Viel Arbeit für die neue Präsidentin Michelle Bachelet, die während der Militärdiktatur ins Exil in die DDR ging und sich jetzt schwer tut, die sozialen wie ethnischen Ungerechtigkeiten in ihrem Land zu überwinden.
Saßen auf der Herfahrt im Bus fast nur Touristen, war er am Nachmittag vor allem mit Einheimischen gefüllt, die wohl von der Arbeit nach Hause strebten. Der Bus fährt ein ausgedehntes Viereck durch den Ort. Die 18 Plätze waren schnell besetzt; im Gang jedoch ist schlecht stehen. Ein junger Mann im dunkelgrauen Anzug mit Krawatte musste sich ordentlich krumm machen. Eine Frau mit erwachsener Tochter nahm diese auf den Schoß, um ihn aus seiner unbequemen Lage zu befreien. Ein anderer, im rot gemusterten Overall,.der sich – durchtrainiert – von der unerquicklichen Stellung kaum stören ließ, sondern unaufhörlich auf seinem Handy telefonierte, erhielt auch noch Platz, indem alle auf der letzten Sitzbank eng zusammenrückten. Nach uns nach entspannte sich die Situation, weil die Chilenen ausstiegen – meist wohl nicht an offiziellen Haltestellen, sondern an individuellen Punkten, die der Fahrer offensichtlich genau kannte. So gewann ich einen kleinen Eindruck von der freundlichen, rücksichtsvollen Wesensart der Bewohner des südchilenischen Landstrichs, während vor dem Fenster die beinahe unberührte Natur vorbeihuschte. Der Fjord, der Seno Aisén streckte sich zum Meer hin. Nun sollte es weitergehen – weiter nach Süden, die immer kälteren Fjorde hinunter bis zur Spitze des Kontinents.