Heute vor zwanzig Jahren fand im damaligen Westberlin, unmittelbar am Brandenburger Tor, das erste einer Reihe von Rockkonzerten statt, bei dem solche Stars wie Michael Jackson und Pink Floyd auftraten. Für viele Jugendliche in der DDR, die wie ihre Altersgenossen überall in der Welt, die Rockmusik liebten, natürlich – wie schon ein Jahr zuvor an gleicher Stelle – eine seltene Chance, ihre Idole im Original zu hören – und vielleicht sogar einen Blick von ihnen zu erhaschen.
Das Ereignis fiel jedoch mit einer zunehmend skeptischen und ablehnenden Stimmung unter der DDR-Jugend gegenüber ihrem Staat zusammen. Immer weniger wurden die Propaganda-Parolen geglaubt, immer mehr verlangten junge Leute auch in der DDR individuelle Freiheiten, die mit dem Hören der von ihnen bevorzugten Musik begannen und mit dem Wunsch nach Reisefreiheit noch nicht endeten. Diese wachsende Unzufriedenheit und die zunehmenden Proteste gegen kleinliche Bevormundung und Gängelung führten zur Einschaltung des Ministeriums für Staatssicherheit, denn sie wurden von der SED-Führung nicht als gesellschaftliches Problem wahrgenommen, sondern vor allem als Produkt westlicher Einflußnahme, warauf sie mit repressiven Mitteln zu reagieren versuchte. Insofern machte sie selbst den Jugendprotest zum Bestandteil jener Oppositionsbewegung, die schon ein Jahr später das Ende der DDR einläutete.
Über diese Ereignisse und Zusammenhänge entstand im Sommer 1990 nachfolgender Text. Zwar ist heute das Geschehen vor 20 Jahren gründlicher erforscht als damals, nur Monate danach; dennoch kann diese bislang unveröffentlichte Darstellung neben ihrem dokumentarischen Teil einiges zur seinerzeitigen Atmosphäre am Ende einer Epoche aussagen.
Null Bock bei der Kampfreserve
Das Ministerium für Staatssicherheit beschäftigte sich seit längerem mit der Situation unter der Jugend, zeigte sich doch immer deutlicher, dass die offiziell stets hochgelobte »junge Garde« einschließlich des gern als »Kampfreserve der Partei« bezeichneten Jugendverbandes FDJ eine ganz andere Entwicklung nahm, als das die greisen Herrscherhäupter der DDR wünschten. Selbst in der Führung wurden solche Signale empfangen, jedoch kaum beachtet. Am 8. Februar 1988 hatte
sich Honecker mit dem Zentralrat der FDJ und den FDJ-Kreissekretären getroffen. Das »’Neue Deutschland« hob insbesondere die vorgeblich positive Entwicklung der Jugend hervor: »Mit Genugtuung stellen wir fest, dass die Jugend in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ihre Lebensperspektive sieht und sie mit ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten verantwortungsbewusst mitgestaltet. Durch das ›FDJ-Aufgebot DDR 40‹ bestätigt Ihr die im Ruf des XI. Parteitages an die Jugend getroffene Feststellung, dass die junge Generation bereit ist, mit großer staatsbürgerlicher Verantwortung das Werk der Aktivisten der ersten Stunde an der Seite ihrer Väter und Mütter würdig fortzusetzen.«
Diese Wertung stand in krassem Gegensatz zu den Tatsachen. Forschungsinstitute und mit der Beobachtung der Situation in der damaligen DDR beauftragte staatliche Stellen der Bundesrepublik hatten schon damals eine Tendenz zu Resignation und Lethargie unter der DDR-Jugend konstatiert. Die anhaltende Reglementierung der Jugendlichen, so schlussfolgerten sie, führe zu einem rückläufigen Engagement, das nur durch die Öffnung neuer Freiräume, vor allem aber ein Mehr an innerer Demokratie und eine erhebliche Ausweitung von Reisemöglichkeiten, überwunden werden könne. Die zunehmend ablehnende Haltung der Jugend gegenüber dem politischen System lasen die westlichen Analytiker auch aus der sinkenden Wehrbereitschaft ab. Nach ihrer Meinung wurden diese Tendenzen schon damals durch eine einfallslose Agitation und Propaganda verstärkt; das Ergebnis waren lustlose Anpassung, zunehmend jedoch auch subtile Formen des Widerstandes, die sich nicht zuletzt im Anschluss an solche Gruppen wie Skinheads, Punks, Grufties usw. äußerten.
Die Staatssicherheit machte grundsätzlich die gleichen Feststellungen, wie eine Analyse vom Sommer 1989 zeigte. Da konstatierte die Bezirksverwaltung Berlin:
»1. Steigendes Interesse und zunehmende Bejahung der westlichen Konsumverhältnisse und Lebensbedingungen. Tiefgreifende soziale Unterschiede im kapitalistischen System, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und ›neue Armut‹ werden bagatellisiert und oft dem Unvermögen der betroffenen Personen zugeschrieben. Wie Aussagen jugendlicher/jungerwachsener Personen bis 25 Jahren, aus denen sich zwei Drittel aller Täter für versuchte ungesetzliche Grenzübertritte und ein Drittel aller Antragsteller auf ständige Ausreise aus der DDR rekrutieren, belegen, sind illusionäre Vorstellungen über ein Leben im Westen, Abenteuerlust und Reisemöglichkeiten bestimmende Motive für ein versuchtes Verlassen der DDR.
2. Anwachsen von Zweifeln über die weitere erfolgreiche Gestaltung des Soz. u. zunehmende skeptische Einstellung zur Siegesgewissheit des Sozialismus im Weltmaßstab. Unter Berücksichtigung dessen gibt es auch bei einigen politisch bewussten Jugendlichen Vorbehalte gegen eine Mitgliedschaft in der SED und ablehnende Haltungen zur Beteiligung an den Kommunalwahlen. (Über 20 Prozent der Nichtwähler waren unter 25 Jahren.)
3. Sinkende Einsicht und abnehmende Überzeugung zur Notwendigkeit der Verteidigung des soialistischen Vaterlandes. Der NATO wird verstärkt ebenfalls ein Friedenswillen zugestanden und der aggressive Charakter der westlichen Militärdoktrin zurückgewiesen. Ausgehend davon werden Zweifel an der Perspektive eines militärischen Berufes oder einer längeren Dienstzeit zum Ausdruck gebracht.«
Diese Erscheinungen wurden jedoch völlig falsch eingeordnet. Aus Sicht der Staatssicherheit beruhten sie in erster Linie auf »ideologischen Angriffen des Gegners«, bei denen er sich
eines »perfektionierten, ausgeklügelten und psychotisch raffinierten Systems des Einsatzes grenzüberschreitender elektronischer Massenmedien« und einer »gezielten Kontaktpolitik/
Kontakttätigkeit« bediente, Grundsätzlich richtige Feststellungen wurden also derart umgedeutet und der Führung in den Berichten auf eine Weise mitgeteilt, dass diese die Notwendigkeit eigenen Umdenkens und eigener Maßnahmen zur Veränderung der Situation negieren konnte. Im Gegenteil; die Illusionen der SED-Führung über den Zustand der Jugend wurden genährt und davon abweichende Erscheinungen als »Machenschaften des Feindes«, die mit den geeigneten Mitteln bekämpft werden müssten, dargestellt. Man hielt an Interpretationen fest, wie sie schon in einem umfänglichen MfS-Papier vom 11. April 1988 zu finden gewesen waren. Dort wurden als Ziele der Massenmedien der Bundesrepublik sowie der verstärkten menschlichen Kontakte genannt, »Jugendliche und jungerwachsene Bürger … politisch negativ zu beeinflussen, ihr Vertrauen in die Politik der Partei und die sozialistische Staatsmacht zu untergraben und sie zu antisozialistischen Handlungen aufzuwiegeln.«
Dort, wo tatsächlich die unerwünschten Tendenzen dargestellt wurden, bagatellisierte man sie zugleich zu Randerscheinungen. Schon im Frühjahr 1988 hatte man zwar Abweichungen von der ideologischen Zielvorstellung erkannt, sie jedoch mit dem beinahe beruhigenden Vorspruch versehen: »Auch wenn es durch die großen Leistungen der jungen Generation unseres Landes auf allen Gebieten unverkennbar ist, dass die überwältigende Mehrheit unserer Jugend zur Politik der SED und zum sozialistischen Staat steht, sind bestimmte Wirkungen bei einem Teil der Jugend unverkennbar.«
Wer sich sein so zusammengebasteltes Bild von der Jugend nicht trüben lassen wollte, war an wahrhaftigen Darstellungen nicht interessiert, Nach Angaben von Egon Krenz nach der Wende hat sogar der Zentralrat der PDJ diese Erfahrung machen müssen. Er nannte als Beleg eine Vorlage für das Politbüro der SED über das 1988 in Zeitz abgehaltene Treffen der Jugendbrigadiere. Sie habe eine sehr kritische Analyse und eine Anlage mit den von den Jugendbrigadieren gestellten Fragen enthalten. »Allein diese Fragen brachten die Situation zum Ausdruck, die damals schon unter dem aktivsten Teil der Jugend herrschte«, so Krenz. »Wir hatten aber größte Schwierigkeiten, die Vorlage einzubringen. Besonders aus dem wirtschaftspolitischen Bereich des Zentralkomitees wurde sie sehr behindert.« Auch die Umfragen des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig hätten viel wichtiges Material enthalten, das jedoch in den Panzerschränken verstaubte. Und wenn es überhaupt auf den Tisch des Politbüros gelangte, dann wurde es dort nicht ernst genommen. Egon Krenz: »Honecker hatte von der Jugend ein Bild aus den 50er Jahren, vom Aufbau der DDR. Er begriff nicht, dass es in den 80er Jahren um mehr ging, um eine moderne Gesellschaftspolitik. Die Tatsachen wurden geschönt, andere, positivere Berichte entgegengestellt und dann etwas nachsichtig gesagt: Da hat die FDJ wieder übertrieben.«
Krenz, der bei all dieser späten Erkenntnis damals die Linie des Politbüros uneingeschränkt mittrug, behauptete sogar, dass die FDJ Strategiediskussionen angeregt hätte, in denen auch die Auffassungen der oppositionellen Gruppen eine Rolle spielen sollten. »Doch der Eindruck einer politisch-moralischen Einheit des Volkes«, über die er selbst im Frühjahr 1989 noch langatmige Artikel verfasst hatte, »sollte vor der Weltöffentlichkeit nicht dadurch gestört werden, dass man das Vorhandensein oppositioneller Vereinigungen zugab. Dass es eine Opposition gab, hielt man zwar intern für normal, aber man war sich sicher, dass man damit fertig werden würde.«
Wie die SED-Führung mit dem Jugendprotest umging, zeigte sich vielerorts. So wurden als besonders gefährlich die Rockkonzerte eingeschätzt, die – erstmals 1987 – in der Nähe des Reichstages und damit des Brandenburger Tores stattfanden. Sie waren bis weit hinein ins damalige Ostberlin zu hören und führten sowohl zu Pfingsten als auch am l3. August 1987 zu einer erheblichen Ansammlung von Jugendlichen östlich des Tores und der dort verlaufenden Grenzanlagen. Auch für Juni 1988 waren wieder solche Konzerte vorgesehen. Das MfS hatte bereits im April prognostiziert: »Wir werden mit weiteren in unmittelbarer Nähe der Staatsgrenze der DDR organisierten, jugendansprechenden Veranstaltungen mit berechneter akustischer und visueller grenzüberschreitender Wirkung konfrontiert werden (Pink Floyd, Michael Jackson). Solche Konzerte stellen eine erhebliche Gefährdung der Sicherheit an der Staatsgrenze zu Berlin (West) dar und sind weiterhin dazu geeignet, Ablehnung gegen unsere Grenzsicherungsmaßnahmen und die gesetzlichen Bestimmungen zur Reisetätigkeit zu erzeugen sowie provokatorisch-demonstrative Handlungen und Zusammenstöße zwischen Jugendlichen und Angehörigen der Schutz-und Sicherheitsorgane herbeizuführen.«
Dementsprechend waren auch die Vorkehrungen, die gegen diese Konzerte – ein erstes war für den 16. Juni 1988 geplant, am 19 Juni trat Michael Jackson auf – ergriffen wurden. Zunächst versuchte man, in Gesprächen mit dem Senat von Berlin (West) ein Verbot oder wenigstens eine örtliche Verlegung der Konzerte zu erreichen. Dann intervenierte man gegenüber den Veranstaltern, unterbreitete den Promotionfirmen lukrative Gegenangebote und setzte schließlich zeitgleich Konzerte auf der Radrennbahn in Weißensee an. Schließlich aber verließ man sich auf das, was als letztes Mittel immer gewirkt hatte – den Einsatz repressiver Gewalt. In einem Papier vom 3. Juni 1988 schilderte die Bezirksverwaltung Berlin des MfS ihre Vorkehrungen: »Es werden im Handlungsraum – Otto-Grotewohl-Str., Hermann-Matern-Str., Friedrichstraße, Unter den Linden – 5 Sicherungsbereiche mit Abschnittsführungspunkten gebildet (geplanter Kräfteeinsatz: 1500 MfS / 1500 VP / 2800 BL und FDJ). Entsprechend der sich entwickelnden Situation und der Einsatzvarianten ist die gedeckte Unterbringung und schrittweise Zuführung von Reserven in die Sicherungsbereiche gewährleistet. Vorbereitet ist die konkrete lagebezogene Einweisung der zum Einsatz gelangenden Kräfte mit dem Ziel, durch taktisch kluges Verhalten Anlässe für Provokationen zu vermeiden bzw. derartige Versuche umgehend zu unterbinden. Desweiteren sind zur Sicherung d. Friedenswoche der FDJ 1000 VP, 400 MfS, 1500 Mitglieder des ZOV und des BOV der FDJ u. polit. MA d. FDJ u. ca. 8500 pro Veranstaltung als Sicherungsblöcke eingesetzt. Entsprechend zentraler Entscheidungen und Weisungen erfolgt aus den Sicherungsbereichen kein Verweisen von Personen. Auch der Fahrzeugverkehr unterliegt keinen Einschränkungen. Der Zugang bis zum Bereich des östlichen Fußgängerweges Otto-Grotewohl/Hermann- Matern-Straße und bis Ende des Mittelstreifens ›Unter den Linden‹ wird gestattet werden. Das Betreten der westlichen Gehwegseite der Otto-Grotewohl/Hermann-Matern-Straße ist zu unterbinden. Bin Einschreiten der der Sicherungskräfte hat bei einer Gefährdung der Sicherheit und Ordnung, eindeutigen Provokationen und Gesetzesverletzungen
unter Beachtung taktischer Gesichtspunkte zu erfolgen . Die Sicherungskräfte dürfen sich nicht durch jede provokatorische Verhaltensweise angesprochen und zum Handeln veranlasst fühlen, sie müssen gewissermaßen ›über den Dingen‹ stehen.«
Während am 9. Juni der ZK-Sekretär für ideologische Fragen, Kurt Hager, dem Zentralkomitee der SED berichtete: »Die Leitungen der Freien Deutschen Jugend verstärken ihre Anstrengungen, allen Jugendlichen zu helfen, in den vielschichtigen Kämpfen unserer Zeit eine aktive Position für Sozialismus und Frieden einzunehmen, immer mehr Jungen und Mädchen mit ihren Überlegungen und Initiativen in die Gestaltung eines anregenden, selbständigen Verbandslebens einzubeziehen und so ihren persönlichen Beitrag zur allseitigen Stärkung und zum zuverlässigen Schutz unseres sozialistischen Vaterlandes zu ermöglichen«, wurden in den MfS-Objekten in Berlin-Lichtenberg
fieberhaft die Vorbereitungen für den 16. Juni getroffen. Am 17. Juni konnte dann für den 16. Juni »ein voller Erfolg« der Maßnahmen konstatiert werden. In der Sprache des MfS las sich der Bericht über den Tag des Konzertes so:
»Gegen 15.00 Uhr beginnend und ab 19.00 Uhr verstärkt war eine zunehmende Bewegung von einzelnen Jugendlichen/Jungerwachsenen und kleineren Gruppen aus dem Bereich Friedrichstraße in Richtung Otto-Grotewohl-Straße feststellbar. Bis 20.00 Uhr hatten sich auf dem Mittelstreifen vor der Kreuzung Unter den Linden/Otto-Grotewohl-Straße ca. 800 Jugendliche/Jungerwachsene sowie rechts und links der Straße Unter den Linden in der Otto-Grotewohl-Straße im Bereich Behrenstraße bis zum Gebäude der Charité rund 700 jugendliche Personen versammelt, von denen eine Vielzahl alkoholische Getränke zu sich nahm. Gegen 18.30 Uhr wurden zehn Personen im Alter von 17 bis 20 Jahren daran gehindert, in das Gebäude der Charité einzudringen, um in höher gelegenen Stockwerken das Rockkonzert in Berlin (West) verfolgen zu können. Im Zeitraum von 19.30 Uhr bis 20.00 Uhr erfolgte die Zuführung von neun Personen, die versuchten, von Dächern aus Häusern in der Marienstraße und Hermann-Matern-Straße Blickmöglichkeiten zum ›Platz der Republik‹ in Berlin (West) zu erhalten. Die Sicherungsmaßnahmen waren insgesamt darauf ausgerichtet, durch taktisch kluges Verhalten Anlässe für provokatorische Verhaltensweisen und Widerstandshandlungen zu vermeiden.
In Abhängigkeit von den sich aus der Lage ergebenden Sicherheitserfordernissen wurden zu unterschiedlichen Zeiten differenziert umfangreiche Sicherungskräfte des MfS und der DVP sowie gesellschaftliche Kräfte, vor allem Unter den Linden/Otto-Grotewohl-Straße, eingesetzt. Damit war stets ein Übergewicht positiver Kräfte in den Personenansammlungen vor dem Brandenburger Tor zu verzeichnen, wo sich ab 20.30 Uhr etwa 1000 Personen, überwiegend im Alter von 16 bis 25 Jahren, aufhielten. Unter ihnen befanden sich ca. 500 Personen, die offensichtlich in provokatorischer Absicht erschienen waren. Von diesem Personenkreis gingen ab 20.45 Uhr massive Bestrebungen aus, den Mittelstreifen und Fußgängerwege Unter den Linden zu verlassen und sich unmittelbar vor den Standgittern auf der Kreuzung Unter den Linden/Otto-Grotewohl-Straße zu versammeln. In der Folge drangen 21.10 Uhr ca. 700 Personen, ohne von den eingesetzten Sicherungs- und gesellschaftlichen Kräften daran gehindert werden zu können, auf die Fahrbahn der Kreuzung vor. Durch den Einsatz zusätzlich herangeführter uniformierter Kräfte der Volkspolizei konnte ein weiteres Vordringen dieser Personenansammlung durch Absperrmaßnahmen unterbunden werden. Bis 23.30 Uhr gab es weitere verschiedentliche Versuche, die Sperrkette zu durchbrechen, was durch Sicherungskräfte der Volkspolizei und der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Berlin verhindert wurde. Im Zusammenhang damit erwies sich im Zeitraum von 21.15 Uhr bis 0.30 Uhr die Zuführung von 81 Personen wegen Rufen von antisozialistischen Losungen, wie ›Die Mauer muss weg‹, dem Absingen von die Politik
der DDR diskriminierenden und verächtlich machenden Liedern sowie Aufrufen zu Widerstandshandlungen und anderen Handlungen als notwendig … Insgesamt war während des gesamten Sicherungseinsatzes in allen Sicherungsbereichen eine stabile sicherheitspolitische Lage gewährleistet. Das weisungsgemäß erfolgte sachliche und flexible Auftreten der Sicherungskräfte trug maßgeblich zur Schaffung einer im wesentlichen ruhigen Atmosphäre im Sicherungsraum bei. Das Einschreiten der Sicherungskräfte in den genannten Fällen war notwendig, um eindeutige Provokationen zu unterbinden, die zur weitergehenden Gefährdung der Sicherheit und Ordnung hätten führen können.«
Das MfS gab intern 181 »Zuführungen« an; ansonsten aber zeichnete sein Bericht das Bild eines fast idyllischen Abends. Tatsächlich aber kam es schon im Juni 1988 zu Ausschreitungen der Sicherungskräfte gegen friedliche Demonstranten, die den späteren Exzessen des Herbstes 1989 in vielem glichen. Daher beschäftigten sich schon damals die Bürgerrechtsgruppen mit diesen Vorgängen. Die »Umweltblätter« publizierten – wie schon ein Jahr zuvor der »Grenzfall« – eine kritische Darstellung der Ereignisse des 16. Juni und bewiesen damit ihre Solidarität, ohne in irgendeiner Weise an Vorbereitung und Organisation der Versammlungen um das Brandenburger Tor beteiligt gewesen zu sein. Es handelte sich vielmehr um spontane Aktionen von Jugendlichen, die vorher zumeist überhaupt nicht mit Protesten in Erscheinung getreten waren. Gerade diese erneuten Anzeichen einer entstehenden Massenbasis der Kritik und der Ablehnung des DDR-Systems machten die DDR-Machthaber so nervös, dass sie in erheblichem Umfang zu Gewaltmaßnahmen griffen. Die »Umweltblätter« berichteten über die Behandlung der »Zugeführten«: »Die Betroffenen wurden auf einen nahegelegenen Hof gebracht. Vorbei an 8 – 10 zivilen Beamten und einem quer aufgestellten LO (-LKW) an der Einfahrt ging es ins Innere des Hofes. Dort würde man gezwungen, sich auf dem Hof mit ausgestreckten Armen und Beinen hinzulegen. Mit zunehmender Dunkelheit wurde der ›Zugeführte‹ mit einem Scheinwerfer angestrahlt. Von dort erfolgte die Aufteilung auf die einzelnen Zuführungsorte … Dort mussten wir uns breitbeinig mit erhobenen Armen gegen die Wand lehnen, Gesicht zur Wand …Wer zur Vernehmung gerufen wurde, hatte den Hof mit den Händen im Nacken zu überqueren. Ist das hier Südafrika oder Chile? fragte ein Zugeführter … Hartnäckige Protestierer wurden gewaltsam zum Schweigen gebracht … Fragen wurden nicht oder nur mit Beschimpfungen beantwortet … Einer Aussageverweigerung bekam man die Drohung entgegen, ›ob er mir erst ein paar in die Schnauze hauen soll‹. Etliche Vernehmungen wurden im Stehen durchgeführt, so dass einzelne teilweise 6-8 Stunden stehen mussten.«
„Null Bock“ auf miese Zukunftsaussichten bei anhaltender Verschlechterung der persönlichen und gesamtgesellschaftlichen Lage durch wirtschaftlichen Dauerabschwung und politische Repression herbeigeführt, kann man gut verstehen.
Zwar war auch Westdeutschland vor zwanzig Jahren nicht frei von sozialen Mißständen wie etwa der Massenarbeitslosigkeit, aber für die DDR-Bürger schien der Westen noch golden zu sein.
Im Jahr 2008 wird man das wahrscheinlich auch bei und gerade bei der Jugend – sowohl im Westen als auch im Osten – nicht mehr so optimistisch sehen. Der damals viel bewunderte wirtschaftliche Reichtum und Warenüberfluß ist auch heute noch gang und gäbe, aber nur in weitaus verschärfter Form einer Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich anzutreffen, so daß sich wieder ein Ausschauhalten nach mehr sozialer Gerechtigkeit auftun könnte.
Und mit der persönlichen und politischen Freiheit ist es im „goldenen Westen“ bei laufend perfektioniert werdenden „Sicherheitsgesetzen“ auch nicht mehr so weit her, wie einst angenommen.
Fazit: Weder ein abgewirtschafteter Pseudo-Sozialismus noch ein aggressiver Turbo-Kapitalismus können und werden den Bevölkerungsmassen dauerhaft die erhoffte Freiheit und Gleichheit bringen können, sondern nur ein humaner Sozialismus, der sich nicht scheut, von der Marktwirtschaft zu lernen, wo etwas zu lernen ist.
Dieser Blog macht wieder einmal deutlich, dass es durchaus Sinn macht, sich an Vorgänge zu erinnern, die scheinbar weit zurück liegen, in Wirklichkeit aber aktueller sind, als man auf den ersten Blick vermuten könnte:
+ deutlich wird einerseits die eklatante Differenz zwischen den Wunschvorstellungen der Führungsschicht und der Realität des täglichen „frohen Jugendlebens“,
+ sichtbar wird andererseits, welcher immense Aufwand – durch MfS, VP, FDJ-Kader – betrieben wurde, um etwas zu verhindern, was sich -auf Dauer – nicht verhindern ließ: die Jugend so leben zu lassen, wie sie es selbst wollte, trotz „Klassenfeind“ oder gerade wegen ihm,
+ unausgesprochen, aber zwischen den Zeilen erkennbar, wird darüber hinaus, auf welchem gravierenden Mangel an Demokratie auch im höchsten SED-Gremium die persönliche Macht Honeckers beruhte
+ und dass der Konflikt, in dem sich Leute wie Krenz wenigstens ansatzweise befunden haben müssen, letztendlich so gut wie nichts an den festgefahrenen Positionen der Führung änderte.
Es bleibt zu hoffen, dass die neue LINKE auch aus diesen Vorgängen Lehren für ihren weiteren Vormarsch in Deutschland zieht, der ohne die Jugend auf Dauer zum Scheitern verurteilt ist.
Ich werde den Tag nie vergessen, als ich das „Sozialistische zusammenleben der Bürger in Demonstrativer weise gestört habe“.
350 Mark und dazu noch 75 Pfennig Bearbeitungsgebühr war mein Preis für den 16.06.1988.
Die 36 Stunden beim Verhör bzw in einer Zelle ohne zu wissen was jetzt wird….. war viel schlimmer.
18 Jahre war ich damals, ach wie lang ist das schon her.