Vietnam verdrängt das Trauma des Krieges und richtet seine Blicke selbstbewusst in die Zukunft. Fast ein »amerikanischer Traum«, aber einer in den Farben des Landes
»Da drüben«, sagt unser kambodschanischer Begleiter Davinn und weist über den Mekong hinaus, »da drüben verlief der Ho-Chi-Minh-Pfad.« Wir sehen eine lang gestreckte grüne Insel in der Mitte des Flusses, weißen Sand am jenseitigen Ufer und dahinter eine rostrote Front dicht an dicht stehender Stämme akkurat gleichgroßer Bäume. Ein friedliches Bild, und man mag kaum glauben, dass hier vor wenigen Jahrzehnten Bomben explodierten, Napalm seine Feuerwalze entfachte und Agent Orange alle verbliebene Vegetation verdorren ließ. Selbst in der Trockenzeit ist das Grün am Fluss saftig. »Die Bäume wurden nach dem Krieg gepflanzt«, erklärt Davinn, »Kautschuk, der hier sehr gut gedeiht.«
Der Vietnamkrieg, den die Amerikaner auch auf die Nachbarländer ausweiteten, ist nicht vergessen, doch meist hört man weniger Klagen über seine Hinterlassenschaft als Berichte, wie man mit den Folgen fertig wurde. Die Kautschukpflanzungen auf dem einstigen Ho-Chi-Minh-Pfad, von denen hier vor allem Kambodschaner profitieren, wegen des Schmuggels des weißen Harzes über die Grenze, aber auch entsprechende vietnamesische Fabriken, sind nur ein Beispiel dafür.
Bill Gates folgt gleich nach Vo Nguyen Giap
Der Krieg ist Geschichte. Für die seither geborenen Generationen hält die Gegenwart andere Probleme bereit. Auch und gerade in Vietnam, wo man das Trauma der Kriegszeit verdrängt, um Kopf und Hände für den täglichen Überlebenskampf frei zu haben.
Ein Spiegelbild dessen ist Ho-Chi-Minh-Stadt. Die einstige Metropole Südvietnams ist zwar nicht die Hauptstadt des seit 33 Jahren wiedervereinigten Landes, doch mit zehn Millionen Einwohnern – die Peripherie eingeschlossen – ist sie größte und zugleich wirtschaftsstärkste Stadt. Sie erwirtschaftet ein Drittel des vietnamesischen Haushalts, jede fünfte ausländische Investition in Vietnam wird hier getätigt. Im Straßenbild zeugen davon nicht nur die aus dem Boden schießenden Hotels mit weltbekannten Namen – von »Hyatt« bis »Sheraton« -, die Luxusmarken der Modebranche auf der Prachtstraße Dong Khoi, die sich diesbezüglich kaum vom Berliner Kudamm unterscheidet, die Tausenden von kleinen Läden und Werkstätten, die sich nicht nur im Zentrum, sondern auch in den Außenbezirken dicht an dicht drängen und in denen beinahe rund um die Uhr gearbeitet wird.
Noch deutlicher wird dies an der Geschäftigkeit der Menschen, der Hektik, die sich am eindrucksvollsten im chaotischen, offensichtlich von keinerlei Regeln behinderten Verkehr zeigen.
Motorisierte Zweiräder aller Art haben die Fahrrad-Rikschas längst verdrängt und die Zahl der Autos der bekannten internationalen Marken wächst sprunghaft. In den Märkten wird immer noch auf traditionelle Weise gehandelt, doch beschleunigen Computer, Taschenrechner und Mobiltelefone den Warenumlauf. Man solle warten und einen Tee trinken, schlagen die Verkäufer vor, derweil sie ein gewünschtes, aber gerade nicht vorhandenes Produkt herantelefonieren.
Weniger dynamisch scheint auf den ersten Blick das Leben in den Dörfern, in denen die Armut oft noch unübersehbar ins Auge fällt. Doch auch hier wird überall emsig an irgendetwas gearbeitet, etwas hergestellt, verpackt, verkauft. In Cai Be, einer Stadt im Mekong-Delta, kann man auf einer einzigen Straße sehen, wie Puffreis hergestellt, die hauchdünnen Hüllen der Frühlingsrollen gebacken, Sojasoße vergoren und natürlich Reisschnaps gebrannt wird. Aus dem Meer wird per Boot schmutzig-gelbes Salz herangebracht, in einem Schuppen in großen Wannen gereinigt, geklärt und getrocknet. Jetzt ist es reinweiß, wird verpackt und auf dem Fluss abtransportiert. All das spielt sich in und um die Wohnhütten ab; dazwischen laufen Hühner, grunzen Schweine, toben Kinder.
Unter den Bohlen der Hausboote auf dem Mekong verbergen sich nicht selten Fischzucht- anlagen. Netze verhindern die Flucht des Schwarms, der etwa acht Monate lang gefüttert wird, ehe die Fische eine Größe haben, die auf dem Markt Gewinn verspricht.
Das Durchschnittsalter der Vietnamesen beträgt 25,9 Jahre, drei Fünftel sind jünger als 27 und damit lange nach Kriegsende geboren. Für ihr Leben spielt der Krieg ihrer Großeltern kaum eine Rolle. Sie nennen Ho-Chi-Minh-Stadt natürlich Saigon und orientieren sich an den Idolen abendländischer Popkultur, nicht anders als ihre Altersgenossen fast überall in der Welt. Bei einer Umfrage nach den für sie bedeutendsten Personen kam Microsoft-Gründer Bill Gates auf Platz 3 – knapp hinter Ho Chi Minh und dem legendären General Vo Nguyen Giap.
Der einstige Kriegsgegner, die USA, ist für viele Vietnamesen inzwischen fast ein Land wie jedes andere. Zwar gibt es in Ho-Chi-Minh-Stadt ein Kriegsmuseum, das die Verbrechen der US-Amerikaner dokumentiert, und 70 Kilometer nordwestlich kann in Cu Chi das legendäre Tunnelsystem der vietnamesischen Volksarmee besichtigt werden, doch zieht es dorthin vor allem Ausländer. Damit sie ein Stück unter der Erde entlangkriechen können, wurden extra die Tunnel erweitert, und an einem Schießstand kostet es nur einige Dollars, um mit der Kalaschnikow zu ballern oder eine Panzerfaust abzuschießen.
Nicht der frühere Feind USA interessiert heute zuerst, sondern die ökonomische und technologische Weltmacht. Ihr will man auf möglichst gleicher Augenhöhe entgegentreten. Und auf diesem Weg ist Vietnam schon ein ganzes Stück vorangekommen. Das Wirtschaftswachstum lag in diesem Jahrzehnt ziemlich stabil um acht Prozent, wird allerdings 2009 nur noch 3 Prozent erreichen. Vietnam ist der zweitgrößte Reisexporteur der Welt und liegt auch bei Pfeffer und Kaffee weit vorn. Textilindustrie und Fischwirtschaft expandierten, müssen aber derzeit mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise kämpfen. So wurde auch die Armut reduziert. Vor zwanzig Jahren verfügte noch jeder zweite nur über einen Dollar Einkommen pro Tag, jetzt vielleicht noch jeder Zehnte. Ein Problem bleibt die Inflation, die im vorigen Jahr zeitweise auf über 25 Prozent stieg.
Der Ehrgeiz eines kleinen Tigers
Die vietnamesische Geschäftigkeit entspringt dem Ehrgeiz, sich möglichst bald in die entwickelten Länder einzureihen. Man zählt sich schon zu den – wenn auch kleineren – »Tigerstaaten«. Dabei achtet die noch immer herrschende, sich aber – anders als im benachbarten Kambodscha – kaum im Straßenbild präsentierende Kommunistische Partei mit ihren 450 von 493 Sitzen der Nationalversammlung sorgsam auf die Wahrung der Unabhängigkeit des Landes. Zwar wurden die Bedingungen für ausländische Investoren gelockert, aber oftmals behält sich die Regierung das letzte Wort im Genehmigungsprozess vor. Ähnlich wie in China sichert sie die politische Kontrolle über die ökonomischen Vorgänge – auch und gerade gegenüber den USA.
Das nervt zwar manchen der dynamischen Jungunternehmer, die sich nicht selten als eine Art »Ein-Familien-AG« entpuppen, findet aber in der Bevölkerung allgemein Zustimmung. Wie auch die Verehrung Ho Chi Minhs, dessen Konterfei man überall im Straßenbild findet.
Auch im Postamt der nach ihm benannten Stadt, das unter französischer Kolonialherrschaft von Gustave Eiffel gebaut und jetzt detailgetreu rekonstruiert wurde – mit einem wichtigen Zusatz: einem riesigen Bild des Volkshelden in der Schalterhalle. Selbst USA-Präsident Bush musste bei seinem Vietnambesuch anlässlich des APEC-Gipfels 2006 unter einer überlebensgroßen Bronzebüste Ho Chi Minhs Platz nehmen. Und auch die Saigoner Börsenjobber unterwerfen sich patriotischem Pragmatismus – indem sie sich bei ihren Geschäften am »Ho-Chi-Minh-Index« orientieren.
(Gedruckt in: Neues Deutschland vom 30. 05. 2009)
Kein geringerer als Karl Marx hat bereits die Vorzüge des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems in den höchsten Tönen gelobt, wohlwissend daß ein unumschränktes Wirken ebenso schlimme Folgen hat.
Diese wichtige Lehre scheint man in Vietnam gezogen zu haben; im Westen aber gibt`s nichts Neues: der Markt allein soll es wieder richten (was die verantwortlichen „Politmanager“ nicht davon abhält, mit Steuergeldern massiv nachzuhelfen).
In Wahlkampfzeiten plustern sich die kapitalhörigen Politiker als Beschützer des Volkes vor der „bösen Wirtschaft“ auf, um nach der Wahl – ohne zu zögern – gegen die Interessen des Volkes Politik zu machen.
Ob man im fernöstlichen Vietnam auch in Zukunft wird standhaft bleiben?