… führen sie Politiker und militärische Führung erst einmal durch die Hölle. 35 Soldaten sind bereits am Hindukusch sinnlos gestorben; wenn die Pläne weiterer Truppenverstärkung wahr werden, steigt diese Zahl schon bald ins Dreistellige. In Vietnam hatten die USA im März 1965 mit ein paar tausend GIs begonnen, zu Ende des Jahres waren es 184 000, ein Jahr später schon 400 000, 1967 dann 485 000 und 1969 540 000. Und dennoch konnte die sich so glorreich wähnende US-Armee das kleine Vietnam nicht niederringen; 1975 stürmten die Amerikaner in Saigon in wilder Flucht die letzten Hubschrauber, ehe die Vietcong die Stadt erreichten. Auf dem Schlachtfeld zurück blieben 58 193 US-GIs – und 60 000 weitere, die nach dem Krieg Selbstmord begingen, weil sie mit seinen Folgen nicht fertig wurden.
Diese Perspektive winkt der Bundeswehr in Afghanistan. Noch könnte sie ihren Abzug geordnet vollziehen, aber wie es scheint, hat solche Vernunft im derzeitigen wie künftigen Bundestag nicht genügend Mandate. Begründet wird das gern mit so genannten moralischen Argumenten, was nicht immer so war. Denn ursprünglich wurde der von der UN gebilligte Einsatz von Kampftruppen am Hindukusch mit der Bekämpfung des von dort ausgehenden Terrorismus gerechtfertigt, wovon zu Recht kaum noch die Rede ist. Statt dessen geht es heute um Ziele wie Schulbildung für alle, Emanzipation der Frauen, Ende des Kokainanhbaus, ein neues Rechtssystem und andere, die für sich alle ehrenwert sind, auch wenn sie mit dem UN-Mandat nichts zu tun haben. Auf die Realisierung solcher Ziele warten in Ländern der dritten Welt seit Jahrzehnten Milliarden Menschen; sie wurde ihnen immer wieder versprochen, ohne dass sich etwas tat. Verhält sich der Westen wie gestresste Eltern, die mit ungeeigneten Erziehungsmethoden scheiterten und die Kinder deshalb zur Strafe prügeln? Oder schlimmer noch: Ist das »Abendland« gar so zynisch, sein Versagen jetzt mit einem blutigen Krieg zu übertünchen?
Denn natürlich entbehren die Mittel, mit denen unbotmäßige, vor allem islamisch geprägte Länder zu ihrem vermeintlichen Glück gezwungen werden sollen, jeglicher Moral. Das zeigen schon die Opferzahlen in der Zivilbevölkerung Afghanistans, die fast täglich vermeldet werden und trotz strengster Geheimhaltung inzwischen wohl auf eine sechsstellige Ziffer zugehen. Gern verweisen die Willigen des US-Krieges am Hindukusch auf die Opfer der Selbstmordattentate, um den Blutzoll durch die eigenen Luftangriffe zu bemänteln und verwechseln damit Ursache und Wirkung. Sie nennen die gewiss menschenverachtenden Kampfmethoden der Taliban feige und begreifen gar nicht, wie ebenso menschenverachtend und noch viel feiger ihre Praxis ist, aus der sicheren Entfernung eines High-Tech-Flugkörpers tödliche Geschosse auf Menschengruppen am Boden zu lenken, die vielleicht bewaffnet sind, vielleicht aber auch nicht. In der Sache gibt es da einen Unterschied zu einem Selbstmordattentat nicht. Doch der Afghane hat nicht mehr als sein Leben und opfert es für eine Sache, die er für sich und sein Volk für gerecht hält. Der Bundeswehrsoldat macht aus einem gepanzerten Fahrzeug heraus seinen Job – und weiß zumeist in seinem innersten Herzen nicht, warum er am Hindukusch steht.
Mit seinen Bajonetten stützt der Westen in Afghanistan keineswegs eine demokratische, frei gewählte Regierung, sondern ein korruptes, von großen Teilen, vielleicht einer satten Mehrheit der Bevölkerung abgelehntes Regime, das sich offenbar nur durch Wahlbetrug an der Macht halten kann. Doch all jene westlichen Demokratiewächter, die bei der kleinsten Unregelmäßigkeit von Wahlen in einem sich ehemals sozialistisch nennenden Land laut aufschreien und gar über höchste diplomatische Kanäle Protest artikulieren, schließen hier ihre Augen und erst recht ihre Münder, suchen vielmehr krampfhaft nach Möglichkeiten, dem umstrittenen Präsidenten doch noch einen Persilschein auszustellen.
Für den Einsatz in Afghanistan gibt es keine Rechtfertigung, weil er von einer Mehrheit des dortigen Volkes abgelehnt wird. Aus dem gleichen Grund gibt es für ihn auch keine Erfolgschance. Realpolitik gebietet, den Krieg am Hindukusch zu beenden. Wer darüber hinaus wirklich etwas für das von permanentem Bürgerkrieg geknechtete Land tun will, muss ihm eine wirtschaftliche Perspektive eröffnen, muss die Lebenslage der Menschen auf breiter Front verbessern, muss vielleicht damit beginnen, die Millionen, die der Krieg dort täglich verschlingt, in eine echte Friedendividende umzuwidmen. Vielleicht hilft auch dabei ein Blick ins gar nicht so weit entfernte Vietnam, dem 1975 Chaos und die kommunistische Knute prophezeit worden war, das aber nach langem Jahren weiterer Entbehrungen und bei auch heute noch gewaltigen Problemen inzwischen dabei ist, sich auf die eigene Kraft zu besinnen und einen geachteten Platz in der Welt zu finden.
Und da die Linkspartei bekanntlich schon in sozial- und wirtschaftspolitischer Hinsicht mit ihrer „sozialstaatlichen Propaganda“ äußerst „populistisch“ auftritt, darf man den „kommunistischen Demagogen“ um Gysi und Lafontaine in Sachen Afghanistan-Krieg (der nach „regierungsamtlichem Neusprech“ so nicht bezeichnet werden darf) erst recht nicht über den Weg trauen.