(pri) Wieder einmal haben die westlichen Militärmächte ein politisch-strategisches Ziel, nämlich die Beseitigung des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi, höher gestellt als den von ihnen behaupteten Schutz der Bevölkerung vor Tod und Zerstörung. Denn eine Folge der nun begonnenen Luftschläge gegen libysche Ziele ist schon jetzt absehbar: Die größten Opfer wird wieder einmal die Zivilbevölkerung bringen – und zwar sowohl durch den Abwehrkampf des Gaddafi-Regimes als auch durch die westlichen Bomben und Raketen. Schon hat eine Fluchtwelle aus Bengasi eingesetzt, und man darf gespannt sein, inwieweit die europäischen Menschenrechtsverfechter über Krokodilstränen zu »Kollateralschäden« hinaus diesen Flüchtlingen tatsächlich helfen werden.
Diese Perspektive war es wohl, die Deutschlands Außenminister Guido Westerwelle ein Nein zur Militärintervention sagen ließ. Er scheint angesichts des ungelösten afghanischen Dilemmas keine Neigung zu haben, die Bundeswehr in ein weiteres Abenteuer zu führen – in ein Abenteuer nicht nur ungewissen, sondern sehr gewissen Ausgangs, nämlich eines weiteren auf Jahre schwelenden Kriegsherds in der islamisch geprägten Region. Denn man mag derzeit mit den Bombenabwürfen bei einer kleinen, nur schwer identifizierbaren Gruppe im Raum um Bengasi, der bei Experten als eine Art Hochburg der Moslembrüder gilt, Beifall finden; schon bald, wenn sich der Krieg ausweitet und immer mehr Opfer fordert, wird er nach Afghanistan und Irak als weiterer Beleg des westlichen Kampfes gegen den Islam verstanden werden.
Westerwelle hat – vielleicht mit einem nüchternen und nicht kriegsversessenen Verteidigungsminister an seiner Seite – wohl auch in Rechnung gestellt, dass Gaddafi – so wie er seine offensichtlich nicht demoralisierten Truppen gegenwärtig gegen die Aufstandsbewegung in Stellung bringt – kein leicht zu schlagender Gegner ist. Nicht zuletzt wegen seiner Bewaffnung, die ihm auch westliche Staaten bis in die jüngste Zeit bereitwillig zur Verfügung stellten, um von seinem Ölreichtum und der Repression gegen nach Europa drängende afrikanische Armutsflüchtlinge zu profitieren. Einlenken, um sich entmachten zu lassen, wird Gaddafi nicht, und so sind neben den zivilen und militärischen Opfern in Libyen auch Verluste bei den Angreifern vorprogrammiert. Und sollte es ihm gar gelingen, den Luftangriffen zu widerstehen, würden die Hardliner um Sarkozy und Cameron früher oder später den Einsatz von Bodentruppen beschließen müssen, wollen sie nicht als gedemütigte Verlierer des Waffengangs in Libyen dastehen.
Mit politischer Vernunft hat all dies nichts zu tun, und mit dem Willen der Völker der Kriegstreiber, die sich allesamt mehrheitlich gegen einen Kriegseinsatz aussprachen, schon gar nicht. Die Entwicklung entspricht freilich den objektiven Mechanismen kapitalistischer Politik, die nichts schärfer im Auge hat als die für eine expandierende Wirtschaft erforderlichen Rohstoffressourcen, und zu denen Wachstumsgesetze gehören, die sich eben auch auf die Rüstungswirtschaft erstrecken; von Zeit zu Zeit müssen neue Waffen nicht nur erprobt, sondern die alten auch verbraucht werden, um die Produktion anzukurbeln und damit den Profit sicherzustellen.
Ein besonderes Kapitel im libyschen Drama ist die Haltung Russlands und Chinas, die – für viele überraschend – der neuen militärischen Intervention des Westens nichts in den Weg legten, selbst sich aber in keiner Weise engagierten. Auch sie kennen aus eigener Anschauung die militärische Potenz des früheren Verbündeten und finden es möglicherweise nützlich, wenn sich der Westen einmal mehr an der islamischen Front verkämpft; an je mehr Kriegsschauplätzen der Westen weltweit gebunden ist, desto weniger kann er in Moskauer und Pekinger Einflusssphären aktiv werden. Man mag ein solches Denken zynisch finden, es entbehrt aber auch nicht eines gewissen realpolitischen Sinns und ist nebenbei nicht zynischer als das Verhalten von USA und EU gegenüber den Revolutionären in Bahrain oder Jemen, die von ihren reaktionären Herrschern gerade gnadenlos zusammengeschossen werden – unter den Augen jener, die genau das gleiche Vorgehen Gaddafis in seinem Land mit Bomben beantworten.
Eine erkennbare Spur in den Geschichtsbüchern dürfte Westerwelle mit seinem Zögern vor Kriegsabenteuern noch nicht hinterlassen haben; dazu bedarf es ohne Zweifel weitergehenden Engagements, um westliche Politik weg von der favorisierten Nutzung militärischer Mittel und wieder hin zu diplomatischen Aktionen zu führen. Angesichts der Kriegsbegeisterung vieler Politiker und Medien ist dies allerdings eine Herkulesaufgabe, an der schon der »Friedensnobelpreisträger« Obama scheiterte. Nach wie vor bestimmen nicht dessen Friedensversprechungen, sondern die Rambopolitik eines George W. Bush die internationale Szene. Phantasielos wie er rufen die meisten westlichen Staaten zuerst nach dem Militär, wenn Konflikte ausbrechen, und nicht nach dem Verhandlungstisch. Sie bringen die Welt damit nicht weniger in Gefahr als die Verfechter der Atomenergie, die auch zuerst auf den eigenen Vorteil sehen – und nicht auf das Wohl der Menschheit.
Darf ich Ihrem Artikel entnehmen dass Sie es für verantwortbar halten einen Diktator gegen sein eigenes Volk brutal vorgehen zu lassen und dabei nichts zu unternehmen? Gehört es denn nicht zum Gewissen dazu, die Bevölkerung vor solch einem brutalen Regime mit allen Mitteln zu schützen? Wenn jetzt die Zeit reif ist um den Umsturz zu ermöglichen, sollte man diese Chance einfach so vorbeiziehen lassen?
@ Andreas
Wer genau hinsieht, kann durchaus seine Zweifel haben, dass Gaddafi gegen sein ganzes Volk vorgeht. Im Moment weiß niemand, wie in Libyen die Kräfte verteilt sind und auch nicht, wer sich eigentlich hinter den Rebellen verbirgt. Es hat noch nie einem Volk genützt, wenn ihm von selbst ernannten Heilsbringern von außen neue Verhältnisse verordnet wurden – weder in Irak noch in Afghanistan, in letzterem weder durch Russen noch durch Amerikaner. Sondern die Völker haben immer darunter gelitten.
In diesem Fall möchte auch ich kritisch anmerken, daß Gaddafi – soweit wir das von hieraus wissen und beurteilen können – gegen Teile seines Volkes brutal vorgeht, und zwar gegen Stammesgruppen im Osten von Libyen, die von dem Diktator in Tripolis schon seit langem sehr vernachlässigt wurden.
Außerdem sollte man festhalten, daß der Westen zum militärischen Eingreifen in den libyschen Bürgerkrieg in diesem tief gespaltenen Land, welches nur durch rohe Gewalt von Gaddafi notdürftig zusammengehalten wird, gedrängt werden mußte und nicht wie beim Überfall auf den Irak oder den Einmarsch in Afghanistan völkerrechtswidrig interveniert hat.
Was nach dem möglichen Sturz des Gaddafi-Regimes kommen mag, ist allerdings eine offene Frage. Das heißt aber nicht, daß es mit dem Despoten besser weitergehen würde für Libyen und die arabische Welt insgesamt. Überall in der arabischen Welt rumort es doch gewaltig, die Menschen wollen auch in diesen Ländern endlich in Freiheit leben können. Ob die westlich-kapitalistischen Mächte das nach dem Abtreten der dortigen Gewaltherrscher zulassen werden, ist natürlich äußerst fraglich.
@ Markus
Dass Gaddafi gegen „Teile seines Volkes brutal vorgeht“, impliziert, dass andere Teile seines Volkes zu ihm halten. Wer gibt wem das Recht, vor außen für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen?
Und von wem wurde der Westen zum Eingreifen gedrängt? Von der einen Partei. Gäbe es das sozialistische System noch, hätte die andere Partei, also Gaddafi, möglicherweise den Osten zum Eingreifen gedrängt – mit allen unabsehbaren Folgen.
Ansosnten empfehle ich einen gewiss unverdächtigen Experten:
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~ED1054B1A2C78441F8F32CC4486887553~ATpl~Ecommon~Sspezial.html
@ oberblogsaenger
Im Westen Libyens um Tripolis herum ist es wohl zu gefährlich, sich offen gegen den „Revolutionsführer“ Gaddafi auszusprechen. Wie es scheint, sollten die Rebellen im Osten des Landes unterstützt werden, da das Gaddafi-Regime hier nicht von fremden Mächten, sondern von inländischen Systemkritikern herausgefordert wird. Welcher Experte ist im übrigen schon „unverdächtig“?